Brief an New York City #1
Über dem Ozean hinweg höre ich dich noch atmen –
das Rattern der U-Bahn unter meinen Füßen,
die ungeduldige Symphonie der Taxihupen,
der süß-salzige Duft von Hotdogs
und der Hauch endloser Möglichkeiten –
verführerisch, verlockend,
gesund und ungesund zugleich.
Ich sehne mich nach deinem Chaos,
nach Jazzmelodien, die aus Kellerbars aufsteigen,
nach der Stille in Parks zwischen heulenden Sirenen,
nach der Einsamkeit neben tausend Stimmen,
die durch offene Fenster singen,
und den Geschichten von Fremden,
in denen ich mich oft wiedererkenne.
Und was du mir heimlich zuflüsterst,
was du mir immer wieder heimlich zuflüsterst,
ist, dass „Zuhause“ keine vier Wände ist,
sondern ein Ort, der jede Version von mir versteht –
selbst die, die ich verberge.
Bis ich zurückkehre,
bitte bewahre meinen Schatten auf deinen Gehwegen,
meine Sehnsucht in deinen Lichtern.
Mit Liebe und Sehnsucht,
dein Kind im Exil.
Ingrid e Johnson
Berlin, August 2025
Foto © Ingrid e Johnson 2014 Gracie Mansion, NYC
Erstveröffentlichung in NEWS MIT HERZ. Zeitschrift von Betroffenen für Alle, Vol. 2, 10/25

